top of page

Sechs Sekunden, die ganz Russland und Marinas Leben aufwühlen

Am Montag, dem 14. März 2022, 19 Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, sehen Millionen Zuschauer:innen zur Hauptsendezeit im russischen Nachrichtensender „Perwy Kanal”, wie eine blonde Journalistin ein Plakat in die Kamera hält und gegen den Krieg protestiert.


Quelle: Pexels.com

Es ist eine der aufsehenerregendsten Protestaktionen gegen das Militär, als sich eine Frau inmitten der Live-Nachrichten Время” (deutsch: Zeit”) mit einem Plakat hinter die Nachrichtensprecherin stellt und gegen den Krieg demonstriert - bis die Sendung nach wenigen Sekunden unterbricht. Sechs Sekunden, die weltweit für Aufsehen gesorgt haben. 

Bei der nun 45 Jahre alten Frau handelt es sich um Marina Owsjannikowa, eine Ukainerin, die als Journalistin für den Nachrichtensender Первый канал” (deutsche Übersetzung: Erster Kanal”)  gearbeitet hat. Perwy Kanal” ist der erste Kanal des russischen Staatsfernsehens mit Время” als Hauptnachrichtensender und somit zu vergleichen mit der ARD und der Tagesschau in Deutschland. Ihre Arbeit als Journalistin bei dem Sender beschrieb sie später in den westlichen Medien so: Die westlichen Medien so schlecht wie möglich und Russland als Vorzeigeland darstellen. Sie suchte passende Bilder aus den internationalen Nachrichtenagenturen heraus und blätterte durch bekannte internationale Zeitungen auf der Suche nach positiven Artikeln über Russland. Sie sei erleichtert darüber gewesen, zumindest keine Propagandatexte schreiben zu müssen.


 Stoppt den Krieg. Glaubt nicht der Propaganda. Hier lügen sie euch an.”


Bis sie sich drei Wochen nach Beginn des Krieges dazu entschloss, öffentlich gegen den Krieg und ihre Rolle als Rädchen in der Propagandamaschine” zu demonstrieren. Millionen Menschen vor dem Fernseher haben während der Ansage eines neuen Beitrages ein Plakat lesen können mit der Aufschrift: Kein Krieg. Stoppt den Krieg. Glaubt nicht der Propaganda. Hier lügen sie euch an. Russen gegen den Krieg.” Auf den Protest im Fernsehen folgten weitere Aktionen in der Nähe des Kremls und in den sozialen Netzwerken, sehr zum Missfallen des Staates. Von der Staatsgewalt wurde sie verurteilt - und entschloss sich, ins Exil zu flüchten. Aus einem der Länder, in denen sich die Situation der unabhängigen Berichterstattung nachweislich verschlechtert hat und in denen offene Kritik mit einer Gefährdung der persönlichen Freiheit einhergeht. Von ihrem neuen Standort aus kann sie ihren Beruf weiter ausüben, indem sie für andere Medien arbeitet und zugleich vor drohenden Strafen geschützt ist. 

Exiljournalismus hat nach Meinungen von Stiftungen und Organisationen, wie der “Körber-Stiftung” oder “Reporter ohne Grenzen”, einige Vorteile, weshalb er für einige Medien, wie die BBC, an Wichtigkeit gewonnen hat. Journalist:innen aus den jeweils betroffenen Ländern beherrschen die jeweilige Sprache und eignen sich daher auch als Dolmetscher:innen. Sie können Inhalte, Gesehenes und Gehörtes besser einordnen oder selber formulieren, da sie am besten wissen, was in ihrem Herkunftsland vor sich geht. Dieses Wissen nutzte Marina beispielsweise auch für die “Welt” und berichtete als Korrespondentin über den Krieg. Sie möchte nach eigener Darstellung ihren Beruf im Ausland ehrlich und unabhängig weiter ausüben, sonst hätte sie ihre Heimat nicht mit einer drohenden Strafe verlassen.


Flucht in die Freiheit, aber die Angst bleibt


Wie lange die Berichterstatter:innen vorhaben im Exil zu bleiben, ist unterschiedlich. Manche möchten schnell in ihre Heimat zurückkehren und arbeiten für Medien, die ins Heimatland ausstrahlen. Andere beginnen für nationale Medien zu arbeiten und richten sich auf einen dauerhaften Aufenthalt ein. Owsjannikowa ist zu Beginn nach Deutschland geflüchtet und hat hier als freie Korrespondentin für Welt” gearbeitet, ehe sie - mit einer kurzweiligen Rückkehr nach Russland, um das Sorgerecht für ihre Kinder zu erlangen -  aufgrund ihrer Sicherheit nach Frankreich weitergezogen ist. Unterstützt auf ihrer Flucht wurde Marina durch “Reporter ohne Grenzen” in Frankreich. Seit Oktober 2022 lebt sie mit ihrer Tochter in Paris im Exil. Nach Russland wird sie voraussichtlich nicht mehr zurückkehren, denn dort warten achteinhalb Jahre Haft wegen der Verbreitung von Falschinformationen” auf sie. 

Aber auch in Frankreich muss sie um ihr Leben fürchten. Die Angst vor Anschlägen bleibt, doch ihren Beruf und den Widerstand gegen die Staatsgewalt möchten einige Journalist:innen nicht ruhen lassen. Marina hat ihre Entscheidung damals als hart, aber moralisch richtig bezeichnet und handelt eigenen Aussagen nach für die Zukunft ihrer Kinder. 


Kritik an den Beweggründen


Zu ihren Beweggründen hat sie 2023 auch ein Buch veröffentlicht, in dem sie unter anderem auf die Kritik an ihrer Entscheidungsfindung eingeht. Kritiker:innen warfen ihr vor, ins Ausland geflüchtet zu sein, um sich ein Leben im Wohlstand aufzubauen oder als Spionin im Ausland zu arbeiten.

Marina selbst empfindet solche Äußerungen als für sie schwierig, aber doch nachvollziehbar. Sie selbst äußert sich dazu, dass es ihr einfach leid tut, dass sie jahrelang der Propaganda gefolgt ist und empfindet Scham. Sie hatte nach eigenen Angaben Angst um das Wohlergehen ihrer Familie und sei als alleinerziehende Mutter auf das Geld angewiesen gewesen. Deshalb habe sie nicht früher den Schlussstrich gezogen. Außerdem habe ihr Channel One” die perfekten Arbeitszeiten für ein angenehmes Leben mit Freunden und Kindern geboten, so Owsjannikowa. Doch mit Beginn des Krieges und den ersten Bildern von toten Zivilist:innen und Kindern änderte sich auch ihre Meinung. Zehn weitere Generationen unserer Nachkommen werden die Schande dieses Bürgerkriegs nicht wegwischen können”, schreibt Marina in ihrem Buch über ihre Beweggründe und bezieht sich damit auch auf die Zukunft ihrer Kinder. Für den russischen Staat gilt sie mittlerweile als Verräterin.


Autorin: Anastasia Völker

Comments


bottom of page