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Brasilien: (K)ein unbekanntes Land der Extreme?

In Südamerika schläft ein wirtschaftlicher Riese, der nur darauf wartet, seinen Platz am Tisch der großen Wirtschaftsnationen einzunehmen - Brasilien. Die neue Regierung versucht seit ihrer Amtsübernahme im vergangenen Jahr die richtigen Weichen zu stellen. Andreas Nöthen, Brasilienexperte, Journalist und Buchautor erzählt im Interview vom großen Aufschwung, der grünen Lunge des Planeten - und einem Land, das große soziale Probleme bewältigen muss.


Quelle: Pixabay.com

Brasilien ist ein Land, von dem man hier in Europa tendenziell immer zu wenig mitbekommt, zu wenig weiß, wenn man sich die Größe anschaut. Doch in den letzten Jahren gab es dort einen großen Aufschwung. Wie kann man den am besten erklären?


Früher war die Wahrnehmung Brasiliens mehr die eines Entwicklungslandes, wo man Geld hinschickt und dann soll vor Ort etwas Gutes damit getan werden. Heute ist es aber eigentlich wirtschaftlich sehr diversifiziert. Es gibt produzierende Industrie, aber eben auch große Bodenschätze - etwa Lithium oder Aluminiumoxid. Aber auch die Landwirtschaft ist inzwischen riesig. Brasilianisches Soja zum Beispiel ist eine der wichtigsten Nahrungsquellen für unsere Viehwirtschaft hier. Man will in Brasilien inzwischen nicht mehr “nur” als Rohstofflieferant, sondern viel mehr auf Augenhöhe betrachtet werden. Ich denke, dass sich die Wahrnehmung des Landes noch mehr wandeln wird, weil Brasilien innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, Stichwort BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, Südafrika), als Wortführer des globalen Südens agieren möchte. Auch die wichtige Position Brasiliens, was Klimawandel und Klimaschutz betrifft, könnte den Blick auf das Land weiter ändern.


Im letzten Jahr gab es einen Machtwechsel. Präsident Lula da Silva hat das Amt von Jair Bolsonaro übernommen: Was hat Bolsonaros Politik ausgemacht und wo unterscheiden sich die beiden Politiker? Er stieß ja doch auf viel Widerstand im eigenen Land.

Gerade sozialpolitisch hatte Bolsonaro ganz andere Ansichten als Lula. Vor Bolsonaro war Brasilien sehr lange durch eine eher linke, eher progressive Regierung geführt worden. Dann kam Bolsonaro und hat angefangen gegen die schwarze Bevölkerung des Landes zu wettern, hat sich gegen LGBTQI+-Themen wie die gleichgeschlechtliche Ehe gestellt und wollte viel mehr solcher “klassischen” Werte des traditionellen Brasiliens wieder in den Vordergrund bringen. Das hat unheimlich viel im Land zurückgedreht und ging komplett gegen die Entwicklung seit 2003. Das zeigt sich auch in der Außenpolitik des Landes. Während Lula in diesem Jahr 40 oder 50 Auslandsreisen unternommen hat, reiste Bolsonaro damals im Grunde nur nach Israel und in die USA und schottete sich viel mehr ab. Das war eine sehr ungewohnte Rolle von Brasilien, die auch innerhalb des Landes auf Kritik stieß.

Wenn ich als junger Mensch an Brasilien denke, dann denke ich automatisch an den Amazonas und die “grüne Lunge des Planeten”. Das Klima und die Klimapolitik beschäftigen ja die ganze Welt. Wie konnte es dann sein, dass unter Bolsonaro der Regenwald so extreme Schäden davongetragen hat?


Das war vor allem ein alter Ansatz, der noch aus den Zeiten der Militärdiktatur im Land stammte. Damals sagte man, dass der Amazonasraum nur von “Wilden” belebt wurde – der Ansatz war dann, dass man diese Menschen “zivilisiert” und weiter in das Gebiet vordringt und es besiedelt. Viele Maßnahmen von Bolsonaro hatten auch immer mit Landnahme zu tun, da wurde abgeholzt und gerodet und am Ende wusste keiner, ob das Land nun dem Staat oder den Indigenen gehört. Aber es wurde erstmal gemacht und später legalisiert, weil ja auch ein großes Geschäft damit gemacht werden konnte. 


Also hat Bolsonaro damals quasi die Zerstörung billigend in Kauf genommen, weil er an Gewinnmaximierung interessiert war?  


Ja, genau. Das Gebiet ist ja unendlich groß - hier kann man mit Sojaanbau zum Beispiel sehr viel Geld verdienen. Das ging und geht dann leider zu Lasten der Natur.” 



Der Regenwald ist ja auch ein Aushängeschild des Staates. Wie kann ich mir denn da den Widerstand gegen solche extremen Maßnahmen vorstellen? International war der Aufschrei ja sehr groß. 


Quelle: Pixaby.com

Ja, international  sogar größer als in Brasilien. Hier hat man die Aufregung tatsächlich nicht so ganz verstanden, ganz nach dem Motto: Die paar Feuer gehen schon noch klar. Wenn man an Widerstand denkt, dann reden wir viel mehr über die indigenen Völker, die immer weiter zurückgedrängt wurden – teilweise auch mit großer Gewalt. Diese Völker haben versucht mobil zu machen und sind auch regelmäßig in der Hauptstadt Brasilia aufgetreten, wo es große Demonstrationen gab. Ich glaube aber, dass das Thema für die Bewohnenden der Städte doch sehr weit weg war. 


In den Städten gibt es ja auch teilweise ganz andere Probleme. Stichwort Favelas. In Europa gelten die ja immer so ein bisschen als Parallelwelten zum eigentlichen Staat - würden Sie sagen, dass hier Widerstand gegen den eigentlichen Staat ausgeübt wird?

 

Der Widerstand in den Favelas zeigt sich im Wesentlichen in der Herausbildung parallelstaatlicher Strukturen. Hier konnte der Staat oft mit der Schaffung von Strukturen nicht Schritt halten – sprich Schulen, Infrastruktur und medizinische Versorgung. Da haben sich einige Gruppierungen breit gemacht und damit praktisch die Führung an sich gerissen. In einigen Bereichen sind es zum Beispiel die großen Drogenbanden. Daneben gibt es vor allem im Stadtgebiet von Rio de Janeiro seit den 1990er-Jahren die Milizen, die nach einem ähnlichen Prinzip handeln: Sie sorgen für Ruhe, vor allem vor den berüchtigten Drogenbanden wie dem Comando Vermelho (CV) und gewisse Versorgung, dafür zahlt man Schutzgeld und überhöhte Preise. Gerade die Milizen hat die Politik anfangs sogar noch toleriert, weil  sie zum Teil staatliche Aufgaben erfüllen.


Wie kann ich mir da den Umgang der Staatsgewalt mit den Favelas vorstellen? 


Vor einigen Jahrzehnten hat man noch versucht, die Entstehung von Favelas zu verhindern, indem man Siedlungen plattmachte. Aber inzwischen hat man die Sinnlosigkeit davon eingesehen und begonnen, diese als Teile des Stadtbildes zu sehen und zu akzeptieren. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 hatte man sogar versucht, einige wichtige Favelas zu befrieden, durch sogenannte UPPs – das sind Polizeieinheiten, die mitten in den Siedlungen platziert wurden. Das ging auch eine Weile gut, die Kriminalität dort ging zurück. Doch nach den Großereignissen fehlte das Geld und die Maßnahme wurde wieder eingestellt. Diese Stadtteile zu integrieren ist eine Mammutaufgabe. Nur als Beispiel: In Rio de Janeiro soll es alleine mehrere hundert Favelas geben - einige ganz klein, dafür andere aber riesig wie die Rocinha mit bis zu 100.000 Einwohnern. 


Kann Widerstand ein Land wie Brasilien weiter nach vorn bringen? Ein Regierungswechsel setzt ja immer auch Potenziale frei. 


Die Geschichte Brasiliens ist ein gewisser Sonderfall. Anders als in anderen ehemaligen Kolonien verliefen wichtige Umstürze oft, wenn auch nicht immer, relativ unblutig und gingen, abgesehen vom Ende der Diktatur, weniger auf internen Widerstand zurück als vielmehr auf Druck von außen zurück. Besonders gewaltsam wurde es innenpolitisch, wenn man gegen den Sozialismus kämpfte (etwa in den 1930ern oder 1964). Grundsätzlich hat jede Form von Widerstand Potenzial, Dinge zu verändern, oft auch zum Positiven. Man denke zum Beispiel an die Black Lives Matter- Bewegung oder LGBTQ-, Indigenen. Man kann allerdings beobachten, dass die sozialen Netzwerke, Desinformation, Fake News eine immer größere Rolle spielen und momentan, wie bei den vergangenen Wahlen, in Brasilien vorwiegend aus dem rechten und rechtsradikalen Spektrum eingesetzt werden. Der destruktive Ansatz scheint hier an Bedeutung zu gewinnen.


Wenn man dem Ganzen jetzt eine Überschrift geben wollen würde, könnte man Brasilien als Land des positiven Widerstands bezeichnen? Es verlief ja, alles in allem, doch immer recht ruhig, wenn größere Umwälzungen anstanden? 


Brasilien kommt ja aus einer kolonialen Gesellschaft mit einer privilegierten weißen Oberschicht. Die Sklaverei war hier sehr stark ausgeprägt. Das heißt, es war nicht immer friedlich, denn es gab zum Beispiel schon auch entflohene Sklaven, die sich im Hinterland angesiedelt und sich für ihre Freiheit stark gemacht haben. Oder man hatte auch während der Militärdiktatur eine große Bewegung von Kirche und Gewerkschaften, die letztlich zur Demokratisierung beigetragen haben. Es gibt schon viele Themen, für die auch heute die Menschen immer wieder auf die Straße gehen, wie zum Beispiel die Rechte von Schwarzen und die Frauenrechte im Land. Natürlich gibt es aber auch genug Baustellen im Land. Viel Luft nach oben ist zum Beispiel bis heute in der Aufarbeitung der Sklaverei und seiner Strukturen.


Autor: Marco Schüler


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